Jens Wagner

FEILTECHNIK FÜR GITARRISTEN
ANLEITUNG ZUM FEILEN DER FINGERNÄGEL MIT SCHLEIFPAPIER

 

Berühren, Tasten und Fühlen - eine der sensibelsten Fähigkeiten des Menschen.
Mit den Fingerspitzen den eigenen Ton auf der Gitarre produzieren –

 eine der faszinierendsten Erlebnisse beim Musizieren.

 

Diese Anleitung soll anregen, beim Formen und Bearbeiten der Fingernägel auf die besondere Empfindlichkeit der Fingerspitzen zu achten und mit spielerisch ‘tastvollen’ Bewegungen die eigene Wahrnehmung zu schärfen. Das Wechselspiel zwischen runden ‘musikalischen’ Bewegungen und dem bewussten  Nachspüren mit den Fingerspitzen und dem ganzen Körper soll zu einem sinnlichen Erlebnis werden, das auf das Musizieren vorbereitet.

 

ZUBEHÖR
Zum Feilen der Fingernägel werden Schleifpapier, eine Feilunterlage, ein Metallstab sowie zur Pflege von Nagel- und Nagelbett, Haut- bzw. Nagelöl  benötigt (Abb. 1).


Im Einzelnen benutze ich Schleifpapier (‘Nassschleifpapier’) mit verschiedenen Körnungen (600-1500) und Micro Mesh - Schleif-/Polierleinen ( http://www.micro-mesh.de ) in verschiedenen Stärken. Das Papier wird jeweils zu kleinen Blättchen (ca. 5 cm x 4 cm) ausgeschnitten. Als Unterlage für die Blättchen dient eine flexibles Kissen (hier Zellstoffgummi, ca. 1 cm dick) in den Abmessungen 7 cm x 6 cm. Zum Bearbeiten der Nägel unter Einbeziehung verschiedener Anschlagsbewegungen verwende ich einen dünnen Metallstab (Durchmesser ca. 1 mm , 18 cm lang), anzufertigen z.B. aus einer Strick- oder Häkelnadel.

KÖRPERHALTUNG
Voraussetzung für ein erfolgreiches Bearbeiten der Fingernägel ist eine entspannte Sitzposition aus der heraus die Arme, Hände und Finger frei bewegt werden können. Das sinnliche Wahrnehmen der Fingerkuppen/-nägel soll dabei bewusst unterstützt, eine konzentrierte Atmosphäre geschaffen werden (Abb. 2 - 4).

FEILPAPIER UND UNTERLAGE
Das Kissen wird in die Innenfläche der linken Hand gelegt. Die Fingerspitzen fixieren dann Kissen und das daraufliegende Blättchen (Abb. 5 / 6). Die Handinnenfläche und die Finger können das Kissen entsprechend formen und dem zu feilenden Nagel der rechten Hand anpassen (Abb. 7).

BEWERTUNG DER NAGELLÄNGE
Für einen schönen Ton ist die Form und Länge des Nagels und seine Übereinstimmung mit der Kuppenform von entscheidender Bedeutung. Ein kombinierter Kuppen-/Nagelanschlag in seinen verschiedenen Phasen (Vorbereiten, kontrolliertes Abgleiten und Ablösen von der Saite) wird so erst ermöglicht. Setzt man einen Finger der rechten Hand auf dem Feilpapier/Kissen auf und zwar in einem Winkel, der dem ungefähren Anschlagswinkel des Fingers zur Gitarrensaite entspricht, kann an Hand des Auflagekontakts von Nagel und Kuppe die Nagellänge bewertet werden. Die Grundhaltung entspricht der Position des Fingers beim Apoyando-Anschlag, d.h. mit entspanntem vorderen Fingergelenk. Würde man das erste Gelenk beugen, ist der Kuppenkontakt zum Schleifpapier gering, ein zu starkes, unkontrolliertes Kürzen des Nagels wäre die Folge. Gerade für einen voll klingenden Tirando-Anschlag aber wird ein gewisser Widerstand von Nagel und Kuppe zur Saite benötigt, der erst durch eine ausreichende Länge des Nagels vorhanden ist. Im optimalen Fall hat die Kuppe und der Nagel Auflagekontakt zum Schleifpapier, wobei ein gewisser Widerstand des Nagels zu spüren ist (er drückt etwas auf das Schleifpapier in das Kissen hinein). Die Kuppe sollte dabei mit der größt-möglichsten Fläche aufliegen (Abb. 8 / 9).

 

Ist der Nagel zu lang, wird die Kuppe nicht das Schleifpapier berühren sofern man den beschriebenen Anschlagswinkel beibehält (Abb. 10). Dieser Winkel ist natürlich individuell verschieden und abhängig von der Anschlagstechnik und der allgemeinen Fingerform. Bei einem zu kurzen Nagel hat nur die Kuppe Kontakt zum Schleifpapier (Abb. 11).

KÜRZEN UND HERSTELLEN DER GRUNDFORM
Beim Kürzen des Nagels ist der jeweilige Finger der rechten Hand aktiv. Nagel und Kuppe werden soweit wie möglich zusammen auf das Feilpapier aufgesetzt. Die linke Hand fixiert das Kissen/ Schleifpapier und formt es so, dass ein guter Kontakt der Fingerspitze (eines Fingers der rechten Hand) zur Auflagefläche entsteht (Abb. 6 / 7).
Der Finger wird nun vom oberen Rand des Feilpapiers immer nach unten gezogen, vergleichbar mit einer vergrößerten Anschlagsbewegung (Abb. 6). Finger, Handgelenk und Unterarm sind dabei fixiert, die Bewegung kommt aus dem Oberarm. Die vorderen Gelenke des Fingers dabei locker lassen, den Winkel bei der gesamten Bewegung beibehalten! Der Nagel wird somit von der Unterseite gekürzt, wobei die Kuppe die Schablone für die Nagelform ist. Es ist immer darauf zu achten, dass die Kuppe bei jeder Bewegung Kontakt zum Schleifpapier hat. Falls der Nagel sehr lang ist, ist das zunächst kaum möglich, es sei denn, man stellt den Finger in einem etwas flacheren Winkel auf.
Je mehr der Nagel abgefeilt wird desto mehr nimmt der Kontakt der Kuppe zu, wobei man  genau auf den Widerstand des Nagels zum Feilpapier/Kissen achten sollte. Das Tastgefühl ist hier verlässlicher als eine optische Überprüfung. Je kürzer der Nagel wird desto weniger Druck sollte auf das Kissen ausgeübt werden. Die Schleifpapierblättchen beim Kürzen von der groben zur feinen Körnung bzw. Stärke kontinuierlich wechseln! Der Widerstand des Nagels zum Schleifpapier soll ja erhalten bleiben und somit auch der Widerstand des Fingers zur Saite. Es ist darauf zu achten, den Finger möglichst mittig bzw. in dem eigenen bevorzugten Anschlagswinkel aufzusetzen (Abb. 5) und nur mit wenig Druck zur rechten und linken Seite auszuweichen. Dies garantiert, dass die größtmöglichste Anschlagsfläche des Nagels erhalten bleibt. Ist der Anschlagswinkel etwas schräg zur Saite entsteht beim Feilen in diesem Winkel eine Rampenform, d.h. der Nagel nimmt vom Ansetzen auf der Saite (linke Nagelseite bei Draufsicht) bis zum Ablösen beständig zu. Bei einem mehr parallelen Anschlagswinkel wie er zum Beispiel bei der Tremolotechnik erforderlich ist sollte man eine zweite, kleine Rampe einarbeiten. Die Feiltechnik hierzu beschreibe ich unter Herstellen der Mikroform .
Der Daumen schlägt im Vergleich zu den übrigen Fingern in die entgegengesetzte Richtung an. Entsprechend ist auch beim Feilen ein anderes Vorgehen notwendig. Die Anschlagsbewegung (Vorbereiten, Abgleiten und Ablösen) vollzieht sich von der Daumenmitte zur linken Seite (Draufsicht). Deshalb gilt es, die Nagelfläche auf der linken Seite zu erhalten und  den Widerstand von der rechten zur linken Nagelseite zu erhöhen. Beim Kürzen wird also zunächst mit stärkerem Auflagedruck die rechte Seite des Daumennagels bearbeitet (Abb. 12 / 13). Dann erst mit weniger Druck und bewussten Nachspüren des Widerstandes zur linken Seite ausweichen (Abb. 14). Auch hier gilt: guter Kuppen-/Nagelkontakt zum Schleifpapier und Wechsel der Blättchen von grob zu fein.

ABRUNDEN UND POLIEREN
Durch das Kürzen des Nagels von seiner Unterseite ist der Nagelrand sehr dünn geworden. Der nächste Schritt ist nun das Abrunden und Polieren. Bei diesem Vorgang hat nur der Nagel Kontakt zum Schleifpapier; es soll daher mit möglichst wenig Druck gearbeitet werden, um die bereits hergestellte Nagelform zu erhalten. Der Nagel wird frontal aufgesetzt, das vorderste Fingergelenk vom Daumen gestützt. Diesmal ist die linke Hand mit Schleifpapier/Kissen aktiv und bewegt sich parallel zur Nagelspitze um den ganzen Nagelrand herum während der fixierte Finger der rechten Hand passiv bleibt (Abb. 15 / 16).

 

Beim Abrunden des Daumennagels geht man genauso vor, hier wird das vordere Daumengelenk vom Zeigefinger gestützt (Abb. 18).

Der Nagelrand aller Finger wird nach und nach frontal, von unten und von oben (Abb. 17) verrundet.

Man wähle zum Abrunden feines Schleifpapier oder Micro Mesh-Leinen. Mit dem Polierpapier schafft man eine glatte und damit versiegelte, runde Nagelspitze. Beim Polieren können sich linke und rechte Hand zueinander gegenläufig bewegen (Abb. 19 / 20), die Gefahr, dass die Nagelgrundform sich verändert, ist nicht gegeben.

HERSTELLEN DER MIKROFORM
Um den Nagel noch genauer auf den individuellen Anschlag abzustimmen, arbeite ich nach dem Erstellen der Grundform eine so genannte Mikroform ein. Diese kaum sichtbare Veränderung der Grundform resultiert aus vielfältigen Anschlagsbewegungen auf einem dünnen Metallstab, der mit feinem Feilpapier ummantelt ist (Feilstabtechnik). Der Stab wird auf dem Kissen aufgesetzt und dann mit einem großen Feilpapierblättchen umwickelt. Daumen und Zeigefinger der linken Hand halten das obere Ende des Stabs und fixieren gleichzeitig das Blättchen. Stab und Blättchen sollen dicht miteinander verbunden sein (Abb. 21 / 22).

Auf gleiche Weise kann man natürlich auch eine Saite der Gitarre mit Feilpapier umwickeln. Die Vorteile des Metallstabs demgegenüber liegen in seiner einfachen Handhabung, die entspannte Sitzposition  kann beibehalten werden und man ist unabhängig vom Instrument. Ist der Stab zusammen mit dem Kissen stabil auf dem Bein (oder Tisch) aufgesetzt (Abb. 4), so ist es nun möglich, mit leichtem Druck und gutem Kuppen-/Nagelkontakt zum Feilpapier, verschiedene Anschlagsbewegungen auszuführen (Abb. 23 / 24).

Der Stab kann bei diesem Vorgang etwas schräg gestellt werden in einem Winkel , der dem der Gitarrensaite in der Spielposition entspricht. Möglichst in vielfältiger Weise mit dem Daumen und den übrigen Fingern auch in Kombination den Stab ‘anschlagen’ (Apoyando- und Tirando-Wechselanschläge, Tremolo, schnell - langsam etc.). Der Stab ist stets fixiert, die Finger führen die Bewegung aus. Die Grundform des Nagels wird mit der Feilstabtechnik minimal verändert, vorausgesetzt man verwendet feines Schleifpapier und übt nicht übermäßigen Druck aus. Die Bewegung der Finger ist locker auszuführen.
Besonders möchte ich auf die Einarbeitung einer zweiten, kleinen Rampe hinweisen, die man mit Hilfe der Feilstabtechnik formen kann. Die zusätzliche Rampe ermöglicht eine runde Tongebung auch bei parallel zur Gitarrensaite gestelltem Nagel. Dieser hat beim Ansetzen auf die Saite nun an zwei Stellen Kontakt (Abb. 25 / 26).

Beim Ausführen des Anschlags gleitet die Saite bei der Doppelrampenform sowohl von links (große Rampe) als auch von rechts (kleine Rampe) zum Ablösepunkt hin ab (Abb. 26 / 27) - beim Daumenanschlag entsprechend umgekehrt: kleine Rampe links / große Rampe rechts. Ohne übermäßigen Druck wird der Nagel leicht an seiner rechten bzw. linken (beim Daumen) Unterseite in Pfeilrichtung gefeilt (Abb. 28 - 30).

Nach dem Einarbeiten der Mikroform folgt erneut das Abrunden und Polieren wie bereits beschrieben. Diesmal noch vorsichtiger vorgehen und feines Schleif- und Polierpapier verwenden.

 

NAGELPFLEGE
Um die Nägel gesund zu erhalten und widerstandsfähig zu machen empfiehlt sich die Pflege mit einem gut einziehenden Nagel- oder Hautöl. Das Öl wird auf den Nagel, das gesamte umgebende Nagelbett und unter die Nagelspitze aufgetragen und dann einmassiert (Abb. 31).

ZUSAMMENFASSUNG DER ARBEITSSCHRITTE
1. Bewerten und Kürzen. Schleifen von der Nagelunterseite, rechte Hand aktiv.
2. Abrunden und Polieren. Schleifen des Nagels frontal, von oben und unten. Linke Hand aktiv.
3. Herstellung der Mikroform. Anschlagsbewegungen auf dem ummantelten Metallstab

    (Feilstabtechnik). Rechte Hand aktiv.
4. Abrunden und Polieren (wie 2.).
5. Nagelpflege.

SCHLUSSBETRACHTUNG
Die Form und Länge der Nägel nach der Bearbeitung mit der beschriebenen Feiltechnik sollte den individuellen Anschlag begünstigen und einen den eigenen Vorstellungen entsprechenden Ton optimieren.
Die Kuppe hat eine entscheidende Rolle bei der Formgebung des Nagels: sie dient als Schablone für die Nagelform und kontrolliert durch ihren feinen Tastsinn das Bearbeiten des Nagels (Schablonentechnik). Eine individuelle Grundform kann erstellt werden. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, dass die Kuppe bei Bewegungen auf dem Schleifpapier mehr oder weniger vorgeschoben wird je nach Festigkeit des Fingergewebes. Ein ähnlicher Vorgang findet auch beim Anschlag an der Saite statt. Diese Veränderung der Kuppenform ist optisch schwer zu verfolgen, das Tasten hat hier den Vorrang.
Das Herstellen der Mikroform optimiert den Nagel. Verschiedene Anschlagswinkel können benutzt werden ohne das unerwünschte Nebengeräusche auftreten. Bei bestimmten Anschlagswinkeln begünstigt die Form der Doppelrampe den Klang und die Ausführbarkeit.
Betrachtet man den Nagel von seiner Unterseite in dem ungefähren Anschlagswinkel und seiner Schrägstellung zur Saite, wird die Übereinstimmung von Kuppen- und Nagelform sichtbar; hat man beim Feilen den gewissen Widerstand von Nagel und Kuppe gegenüber dem Schleifpapier/Kissen beibehalten, ist eine leichte Zunahme der Nagellänge im Verhältnis zur Kuppe vorhanden, was den ‘Rampeneffekt’ , d.h. das bewusste, kontaktvolle Abgleiten an der Saite mit anschließendem impulsgebenden Ablösen begünstigt (Abb. 32 / 33). Führt man einen Anschlag langsam an dem Metallstab aus, ist eine optische Kontrolle möglich: der Kontakt und Widerstand von Nagel und Kuppe beim Ansetzen (Vorbereiten), langsamen Abgleiten und  Ablösen von dem Metallstab ist so zu sehen und zu spüren.

Weitere Formgebungen

Einen entscheidenden Einfluss auf die Tongebung hat das Größenverhältnis zwischen großer und kleiner Rampe. Verschiebt man dieses Verhältnis, ergeben sich weitere Nagelformen, die ebenso wie die oben beschriebene Form vielseitig verwendbar sind. Beim Erstellen der Grundform ist es zum Beispiel möglich durch verstärktes Feilen einer Nagelseite, das Größenverhältnis zwischen großer und kleiner Rampe umzukehren (Abb. 34). Beim Anschlag mit dieser Form ergibt sich ein größerer Anfangswiderstand zur Saite und eine damit verbundene größere Auslenkung. Das Ablösen von der Saite findet wieder an der höchsten Nagelstelle statt, diesmal aber allmählicher und kontrollierter. Das Ergebnis ist ein impulsreicher und grundtöniger Klang.

Wie dieses Beispiel zeigt können vielfältige Nagelformen mit Hilfe der beschriebenen Feiltechnik erstellt werden und so den individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Ein Ausprobieren und Experimentieren lohnt sich!